Wagners Zahnweh

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"Richard Wagner und das deutsche Gefühl", so lautet der Titel einer Ausstellung im Deutschen Historischen Museum Berlin, die noch bis zum 11. September 2022 läuft. Parallel zur Ausstellung ist nun ein Katalog im Ver­lag wbg Theiss erschienen.

Die Berliner Ausstellung sowie das Begleitbuch sind in die vier Kapitel "Entfremdung" – "Eros" – "Zugehörigkeit" – "Ekel" aufgeteilt. Auf zwei Diskussionsebenen wird versucht, das "Phänomen Wagner", das sich schon bald als großartiger Widerspruch entpuppt, zu erklären. Auf der ersten Ebene geht es um die Art und Weise, wie der Tondichter sein Publikum lehrte, zu fühlen. Und auf der zweiten, wie er sein Publikum lehrte, deutsch zu fühlen. Wenn also Sachs in den "Meistersingern" davon singt, die deutschen Meister zu ehren, dürfte Wagner sich selbst damit gemeint haben. Was also ist deutsch? Wagner hatte da mehr oder minder klare Vorstellungen: "Deutsch sein heißt, eine Sache um ihrer selbst willen tun." Anders formuliert: Das Deutsche oder der Deutsche genügt sich selbst. Störfaktoren wie der Modernismus, die Massenkultur, die Emanzipation der Juden, aber auch die Philister sind klare Gegenspieler einer geschlossen auftretenden deutschen Nation. So nachzulesen in Wagners Pamphlet "Das Judenthum in der Musik" (unter dem Pseudonym "K. Freigedank"), das zeitlebens mit Klarnamen neu publiziert wurde. Wagner, ein Freidenker seiner Zeit, ein "Seismograf des Ressentiments in Deutschland während des 19. Jahrhunderts", wie es im Buch treffend heißt, und in dieser Rolle, daran führt kein Weg vorbei, ein Vordenker der Nationalsozialisten.

Wagner und die Formel des deutschen kollektiven Narzissmus

So verschweigen die im Band versammelten Essays nicht, dass Richard Wagner und seine Schriften auch den Beginn des modernen rassistischen Antisemitismus markieren. Anders als beispielsweise Karl Marx dringt Wagners Antisemitismus tief in sein Werk und Figuren wie Mime oder Beckmesser ein. Theodor W. Adornos Diktum, dass es unmöglich sei, das "Ideologische von Wagner" auszuscheiden und die "reine Kunst wie einen säuberlichen Rest in der Hand (zu) behalten", ist noch immer richtig. Wagners berühmtes Zitat von der Sache, die der Deutsche um ihrer selbst willen meistert, bezeichnet der Philosoph kurzum als die "Formel des deutschen kollektiven Narzissmus".

Betont antikapitalistisch, aber Liebling des Märchenkönigs

Wagner war, ist und bleibt ein ambivalenter Künstler, aber in all seinen Widersprüchen eben "Weltklasse": Bis in den "Ring" antikapitalistisch, aber des Bayernkönigs Liebling. "Hier gilt's der Kunst" als antipolitisches Statement und das "Business muss leider draußen bleiben" – angesichts der Kulturvermarktungsmaschine Grüner Hügel damals wie heute ein schlechter Witz. Und dass Wagner Philister nicht mochte, dann aber ausgerechnet in Bayreuth seinen Frieden fand, bedarf keines weiteren Kommentars. Am Ende ist der Leser fast geneigt, Wagners Verdauungsprobleme oder die Tatsache, dass er viele Jahre unter "unglaublichen" Zahnschmerzen litt, für seinen Ekel oder sogar Hass mitverantwortlich zu machen.

Mineralwasser predigen, Schampus schlürfen

Ein fauler Backenzahn sowie ein alter Mineralwasserkrug von Apollinaris, wobei Wagner dann doch bevorzugt Bier und Champagner trank (auch dies ein Widerspruch), sind im Buch gleichsam als Reflexionsexponate abgebildet. Die Ausstellung "Richard Wagner und das deutsche Gefühl" ist noch bis einschließlich 11. September 2022 im Deutschen Historischen Museum Berlin zu sehen. In diesem Zusammenhang ist auch eine Sonderausstellung im Bayreuther Richard Wagner Museum mit dem Titel "VolksWagner – Popularisierung. Aneignung. Kitsch" zu empfehlen. Sie findet ab dem 23. Juli statt und geht bis zum 3. Oktober.

Deutsches Historisches Museum
Richard Wagner und das deutsche Gefühl

Deutsches Historisches Museum (Hrsg.). 272 S. mit ca. 120 farb. Abb., 17 x 24 cm, Klappenbroschur.

wbg Theiss (hier können Sie das Buch direkt beim Verlag bestellen), Darmstadt

ISBN 978-3-8062-4444-1

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